Kickass Science
Neuroathletiktraining – Teil 1
Florian Heck • 31. Mai 2021 • 7 Min.
„Alles nur Kopfsache“ – hinter dieser oftmals laxen Redewendung steckt eine ganze Menge mehr. Denn jede Bewegung beginnt zunächst in unserem Gehirn und bestimmt unsere sportliche Leistungsfähigkeit maßgeblich mit. Daher lohnt sich ein tiefergreifender Blick in die Prozesse des Nervensystems. Diesen Ansatz verfolgt das sogenannte neurozentrierte oder Neuroathletik Training, dessen Begründer Dr. Eric Cobb mit seiner Z-Health Methode ist. In Deutschland populär wurde der Bereich unter anderem durch Lars Lienhard, der die deutsche Fußball Nationalmannschaft vor ihrem Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien begleitete und mehrere Bücher zu diesem Thema veröffentlicht hat. Mittlerweile integrieren auch immer mehr Spitzensportler/ -innen die Methode in ihr Training, unter anderem auch KickAss Sports Gründerin und Profi-Triathletin Laura Philipp. Wir integrieren diesen Ansatz ebenfalls in unseren Education Angeboten, da wir der Ansicht sind, dass jede Bewegung im Kopf beginnt und sich insbesondere Techniktraining daran orientieren sollte.
Da das Thema sehr umfangreich ist, gehen wir im ersten Teil zunächst auf einige Grundlagen und das visuelle System ein. Im zweiten Teil geht es dann um das Gleichgewichts- und propriozeptive System. Neben Erklärungen bieten wir euch ebenfalls einige Übungen an.
Arbeitsweise des Gehirns
Vereinfacht gesagt macht unser Gehirn drei Dinge:
1. Aufnahme von Informationen aus der Umwelt, von eigenen Bewegungen und inneren Prozessen (Atmung, Organtätigkeit) über die Sinnesorgane = Sensorischer Input
2. Analyse und Verarbeitung im Gehirn = Interpretation
3. Erstellung eines Programms für die nächste Handlung und Weiterleitung an die entsprechenden Bereiche des Körpers = (Motorischer) Output
Der Output könnte beispielsweise ein Armzug beim Schwimmen, ein Laufschritt, aber auch eine Empfindung wie ein Schmerz sein. In der Praxis konzentrieren wir uns in diesem Prozess nahezu ausschließlich auf den Output und versuchen diesen durch entsprechenden Trainingsmaßnahmen zu verbessern. Häufig kommen wir dabei zu dem Punkt, an dem unsere Leistung trotz hoher Motivation, Fleiß und häufigem Üben stagniert. Wir hinterfragen unser Trainingsprogramm und übersehen dabei, dass es die Schritte 1 & 2 (Input & Interpretation) des Prozesses sind, welchen mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Denn der Output hängt zum Großteil davon ab, wie gut die Qualität des Inputs und der Interpretation ist.
„Das Gehirn ist nicht primär auf Leistung ausgerichtet“
Die Hauptaufgabe des Gehirns ist es unser Überleben zu sichern. Alle weiteren Dinge werden dieser Aufgabe zunächst untergeordnet. Dazu zählt auch die sportliche Leistungsfähigkeit. In jeder Millisekunde nimmt unser Gehirn unzählige sensorische Informationen auf. Dazu scannt es unsere Umgebung, unsere Bewegung sowie unseren Körper und wertet diese Informationen dahingehend aus, ob das, was wir gerade tun, eine „Gefahr“ darstellt oder nicht. Wird eine Situation als nicht eindeutig vorhersehbar erkannt, zieht das Gehirn die Handbremse und die optimale Leistung ist nicht möglich. Qualitativ unzureichende Informationen werden dabei auch als nicht vorhersehbar und bedrohlich eingestuft und es kommt zu „Schutzmaßnahmen“ wie beispielsweise die Einschränkung von Kraft und Beweglichkeit, muskuläre Spannungen oder Schmerz. Wieviel Druck beispielsweise auf das Pedal beim Radfahren gebracht wird, kann demnach unter Umständen an den aufgenommenen visuellen Informationen liegen. Um die maximale Leistungsfähigkeit zu erreichen, muss also der Input und die Interpretation verbessert werden, damit die Rezeptoren der Bewegungssteuerung möglichst hochwertige Informationen an die entsprechenden Hirnareale liefern, die diese dann weiterverarbeiten und an die Muskeln senden.
Bildlich kann man dieses Szenario mit der Funktionsweise eines GPS-Computers vergleichen. Der Computer empfängt Signale über mehrere GPS-Sender. Je besser diese Informationen sind, desto genauer kann der Computer den momentanen Standort, die Distanz und die Geschwindigkeit ermitteln. Liefert einer oder mehrere GPS-Sender unzureichende oder keine Informationen, leidet auch die Genauigkeit der Daten.
Erhält das Gehirn permanent unzureichende Informationen, kann es zu dauerhaften körperlichen, gesundheitlichen, emotionalen und mentalen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit kommen.
Um dies zu vermeiden und die Leistungsfähigkeit langfristig zu verbessern, sollte am Input und der Interpretation gearbeitet werden.
Auswertung der Trainingsübungen
Das Gehirn und das Nervensystem reagieren unmittelbar auf die gegebenen Reize. Daher kann sehr schnell überprüft werden, welche Wirkung die jeweilige Übung hat. Um die Wirksamkeit der Übungen herauszufinden, sollte vor und nach jeder Übung ein Assessment durchgeführt werden und diese miteinander verglichen werden. Nach folgendem Schema kann dabei vorgegangen werden: Pre Assessement – Übung – Post Assessement
Je nachdem, wie das Post- zum Pre Assessement ausgefallen ist, kann dann ein Rückschluss über die Wirksamkeit der Übung getroffen werden. Diese kann folgendermaßen eingeteilt werden:
1. High Performance: leistungsoptimierende Übungen, die einen positiven Effekt auf das zentrale Nervensystem haben. Ergebnisse im Post Assessment fallen besser aus. Diese Übungen können eingesetzt werden, um eine schnelle Leistungssteigerung zu erreichen (z. B. unmittelbar vor einem Wettkampf).
2. Neutral/ leicht positiv: Übungen, die (nahezu) keinen Einfluss auf das Nervensystem haben. Beide Assessments fallen gleich aus.
3. Aufarbeitung: Übungen, die vom Gehirn als nicht vorhersehbar eingestuft werden. Das Gehirn reagiert mit Schutzmaßnahmen und das Post Assessment fällt schlechter aus. Diese Übungen sollten langfristig auftrainiert werden.
Die bewegungssteuernden Systeme
Für den sensorischen Input unseres Gehirns sind drei Systeme verantwortlich: das visuelle System (Sehen), das vestibuläre System (Gleichgewicht) und das propriozeptive System (Eigenwahrnehmung von Bewegung). Im Hinblick auf die Bewegungssteuerung gibt es dabei eine klare Hierarchie:
- Visuelles System
- Gleichgewichtssystem
- Propriozeptives System
Auf jedes einzelne System wollen wir genauer eingehen und entsprechende Trainingsempfehlungen geben.
Das Visuelle System
Das visuelle nimmt nicht ohne Grund den ranghöchsten Platz in der Hierarchie der bewegungssteuernden Systeme ein. Es liefert mit ca. einer Millionen Nervenfasern die meisten und wichtigsten Informationen und den größten sensorischen Input mit über 10 Millionen Daten pro Sekunde. Dabei geht es weit über „scharfes Sehen“, welches beim Optiker getestet werden kann, hinaus. Das visuelle System liefert Informationen über unsere Umwelt, setzt uns in Relation zur Umgebung und ist maßgeblich an der Bewegungssteuerung beteiligt. Daneben umfasst es die motorischen Fähigkeiten der Augen, die Augenbewegungen. Schon geringe Informationsverluste oder Störungen können zu einer unsicheren Situation führen und die Leistung mindern.
Weitere visuelle Fähigkeiten
- Peripheres Sehen = neue oder sich bewegende Objekte in der Peripherie ausmachen
- Foveales Sehen = Erkennen von Detailinformationen
- Binokulares Sehen = beidäugiges Sehen; beide fovealen Sichtfelder werden auf ein Ziel ausgerichtet
- Sakkaden = Blicksprüngen von einem zum anderen Objekt
- Pursuits = Augenfolgebewegungen
- Vergenz = Zusammen- und Auseinanderführen des Blickes
- Akkomodation = Nah- und Fernsehen
- Sehrschärfe = Objekte klar und scharf erkennen
Folgende Fähigkeiten sollte das visuelle System eines Sportlers beherrschen:
- Visuelle Klarheit liefern
- Augenbewegungen gut kontrollieren können
- Tiefenrelation zu Objekten präzise bestimmen
- Gute periphere Wahrnehmung gewährleisten
Angesichts der Komplexität des Systems und der Vielzahl der Informationen, kann das Augentraining sehr anstrengend und ermüdend sein, weshalb langsam und mit einfachen Übungen begonnen werden sollte. Hierbei kann zwischen sogenannten Top-down und Bottom-up AthletInnen unterschieden werden. Erstere haben keinerlei Verletzungen an Auge oder Kopf und vertragen einen visuellen Stimulus sehr gut. Bottom-up AthletInnen reagieren sehr sensibel auf visuelles Training und können sogar mit Schwindel oder Übelkeit reagieren. Oftmals hatten sie in der Vergangenheit (leichte) Gehirnerschütterungen oder sind sehr licht- und geräuschempfindlich.
Übungen
1. Isometrisches Training der Augenmuskeln mit Sterndiagramm
Durchführung:
- Neutraler Stand, Blick von der Mitte aus auf die Endpunkte der Strahlen führen und für 5-10 Sekunden auf diesem Punkt bleiben. Bewegungsrichtungen: Rechts-Links/ oben-unten/ Diagonalen
- Kopf sollte sich nicht bewegen
- Bereitet eine Position Schwierigkeiten? Bewegt der Kopf sich mit? Diese Richtungen sollten verstärkt trainiert werden
2. Sakkadentraining mit Buchstabenkarten
Durchführung:
- Neutraler Stand, Blicksprünge von naher Buchstabenkarte zu entfernter Buchstabenkarte; jeden Buchstaben von links nach rechts durchgehen
- Blick erst wechseln, wenn Buchstabe deutlich erkannt wurde
3. Pursuits
Durchführung:
- Vision Stick oder Spitze eines Kugelschreibers vor dem Körper auf Augenhöhe halten und mit Blick fixieren
- Vision Stick oder Kugelschreiben in alle Richtungen des Sterndiagramms führen und mit Blick folgen
- Welche Richtung war anstrengender? Wo hat sich der Kopf mitbewegt? Diese Richtungen sollten verstärkt trainiert werden.
4. Augenliegestütz/ pencil push-ups
Durchführung:
- Neutraler Stand, Vision Stick oder Kugelschreiber 40-50 cm auf Höhe der Nase vor sich halten
- Stick/ Kugelschreiber langsam zur Nase bewegen, mit beiden Augen verfolgen bis Bild unscharf wird, dann wieder zurück führen. Wiederholung 2-5x
- Fehlerbilder:
- Stick wird von der Mitte weg zu einem Auge gezogen
- Kopf wird leicht zur Seite rotiert
- Bei einem Auge verzögert sich Bewegung nach innen oder kann nicht lange innen gehalten werden
- Korrektur der Fehlerbilder
- Training nur mit einem Auge, welches nicht so gut nach innen gekreuzt werden kann
Literatur
Lienhard, L. (2019). Training beginnt im Gehirn. riva: München.
Schmid-Fetzer, U. / Lienhard, L. (2018). Neuroathletiktraining – Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. Pflaum Verlag: München.
Schmid-Fetzer, U. / Lienhard, L. (2020). Neuronale Heilung. riva: München.